Eine Stadt ist eine Stadt ist eine Stadt
Zieh weiter, kreative Elite!
„Kommt die Wahrheit aus der Mode?“ fragte neulich die Reklame für eine am Stadtrand von München produzierte Zeitung. Mein gewohnt renitentes Hirn stellte automatisch die Gegenfrage: Wo soll sie denn sonst herkommen, die Wahrheit? Aus dem, was man früher mal Politik nannte? Aus Theorie und sozialer Praxis, Philosophie, Erfahrung, dem Studium der Geschichte?
Pipifax, gibt es ja alles nicht mehr. Dieselbe Zeitung meldete vor längerer Zeit in alarmischem Ton, München sei für „die Kreativen“ nicht mehr „attraktiv“, weshalb diese, anstatt hier zu konsumieren, die Stadt zu „bespielen“ und Kapital zu generieren, neuerdings weiterzögen in andere urbane Zentren auf der Welt.
Heutzutage ist so viel von Flucht und Migration die Rede, sind diese beiden Begriffe durch mediale Markenbildung und Framing indes so einseitig und eindeutig besetzt, dass einem gar nicht mehr auffällt, wie sehr so gut wie alles, was in einer modernen Stadt (oder sagen wir: im Rahmen eines modernen Urbanitätsprodukts) passiert, darauf beruht. Die „Kreativen“ (von denen das geframte Denken erwartet, dass ihr „kreatives“ Wirken die Stadt, in der sie sich gerade vorübergehend aufhalten, im „Wettbewerb der Metropolen“ voranbringt, sie also sämtlichen vergleichbaren Städten angleicht und aber etwas besser macht) finden im Urbanitätsprodukt München nicht genug von dem, was sie aus ihren anderen Spielstätten kennen, oder es ist nicht „hochwertig“ genug. Zwar gibt es in München die gleichen Einkaufszentren, Kettenläden, Bars, Eventstätten, Parkplätze, Mobilitäts- und Freizeitangebote, pseudohistorischen Kennmarken sowie funktional-monumentalen Wohnmaschinen wie in sämtlichen anderen Metropolen – aber halt irgendwie zu wenig: zu wenig teuer, exklusiv, hochklassig und innovativ.
Drum packen sie ihr Zeug und ziehen weiter, nach Berlin, Paris, London, New York, Moskau, Shanghai, Rom, Rio und Barcelona. Dort „passiert“ für ihresgleichen, für die Angehörigen der globalen Kosmopolitenelite, genau das gleiche wie hier (schließlich sind es ja sie und ihre Lifestyledesigner, die das ganze Theater ihres exklusiven „Lebens“ gestalten), aber eben momentan gefühlt etwas wertiger, hipper und frischer. Mit einem Wort: etwas modischer.
Man könnte fragen: Ist das, was diese Klasse, für die die ganze Welt einem Sammelsurium austauschbarer kultureller Disneylands oderMcDonald’s-Läden ähnelt, auf ihrem Migrationszug durch die Filialen ihrer stereotypen Urbanität sieht, wirklich die Wahrheit? Gibt es unter- und außerhalb von dem, was ihre Moden den jeweiligen Spielstätten ihrer Kreativität einpflanzen und drüberstülpen, was die Zeitungen dann feiern und bewerben, was Reiseführer und Tourismusreklame zu „Ikonen“ erheben, die jeder mal gesehen haben muss (obwohl sie ja jeder als Bild schon gesehen hat und obwohl ihre Varianten in allen Städten im Grunde gleich sind), – gibt es unter- und außerhalb davon nicht noch die „echte“ Stadt, die der Gleichmacherei, Kommerzialisierung und Umwandlung in ein Schaufenster zum „Mitmachen“ widersteht, wo das Leben echt, unverwechselbar authentisch und historisch verankert ist?
Nicht wirklich, weil Städte heute kaum noch etwas anderes sind als Schnittpunkte der Migration, so sehr, dass man sich fragt, wieso das Rathaus am Marienplatz nicht längst ein Oktoberfestmuseum und die für die Stadtpolitik zuständige Konferenz von Investoren, Tourismuskonzernen und militarisierter Ordnungsgewalt in den Flughafen im ehemaligen Erdinger Moos verlegt worden ist. Kaum jemand, der in München herumläuft, „wohnt“ und konsumiert hier länger als ein paar Jahre, niemand hat eine topographische, historische und soziologische Ahnung von der Stadt und so gut wie keiner das Gefühl einer politischen Mitwirkungsmöglichkeit.
Dabei begegnen sich die Lebenswelten der Migranten in durchaus absurder Weise. Die einen erledigen ihren Luxuskonsum in den genormten Ablegern diverser Nobelketten, von der Boutique über Hotel und Wohnmaschine (von der heute am besten kein Bewohner mehr weiß, wie sie funktioniert) bis hin zu Kulturstätte, Restaurant und Cocktailbar, abgeschirmt von Störungen, Irritationen, vom Eindringen des gefährlichen Unwägbaren. Die anderen schuften im Bauch derselben Konsumwelt – illegal, prekär, unterbezahlt (oder gar nicht) und ausgebeutet. Weg wollen alle: die einen in eine noch hippere Variante des gewohnten Angebots, die anderen in ein erträumtes gutes (oder zumindest erträglicheres) Leben.
Wie absurd und bizarr dieser globale Prozess und seine Resultate sind, fällt einem auf, wenn man mal versucht, die „typischen“ Elemente von München aufzuzählen. Den wenigen verbliebenen „Veteranen“ fallen da undurchdringlich düstere, grell katastrophische, renitent widerständige und für Obrigkeiten jeder Art unzugängliche Stätten ein. Kneipen, Keller, Winkel und Nischen, Werkstätten, Versammlungsräume, auch unter freiem (aber eben weitgehend wirklich freiem) Himmel, Kommunen, Redaktionen „alternativer“ Zeitungen und Flugblätter, ein ungeheures Netzwerk des (meist unbewussten) Widerstands gegen die Einbeziehung in die vermarktbare Monokultur des statischen und mobilen Tourismus, gegen die Verwandlung der Stadt in eine tote Mischung aus Museum und Freizeit-Fun-Resort.
Alles weg, spur- und rückstandslos verschwunden, weggespült von der Flutwelle der globalen Vereinheitlichung und „Aufwertung“. Was heute an ähnlichem noch zu finden wäre, ist nicht mehr zu finden. Es vegetiert ganz draußen am (sozialen) Rand, versteckt, heimlich, polizeimilitärisch drangsaliert und von den Medien als brisanter Brennpunkt von Kriminalität und Gewalt so unablässig angeprangert, dass man völlig vergessen hat, wo die Gewalt in dieser Welt tatsächlich herkommt: aus den Waffenfabriken, den Nobelresidenzen, den von denselben Medien zu Sphären der Heiligkeit, der globalen Wohltätigkeit verklärten Konferenzräumen und Ballsälen, wo die ständigen Kriege und Massenschlachtungen, die Krisen und die Ausbeutung von neun Zehnteln der Menschheit gemanagt werden.
Was bleibt? das Oktoberfest? Davon gibt es weltweit mindestens 500, wo überall das gleiche stattfindet: Man säuft Bier, grölt Schlager, trägt „Tracht“, kauft Zuckermüll und Souvenirs. Die vielgerühmten „Boazn“, wo täglich ein paar Dutzend Kurzzeitmünchner BWL-Lehrlinge zwei alte Dimpfel beim Watten bestaunen und sich beim Kotzen „urig“ wähnen? Was dann? Die urbanen Saisonevents? Man nenne mir eine Metropole in Europa und auf Erden, wo inzwischen nicht zum Beispiel im späten Frühling ein paar Tonnen Sand an ein Flussufer geschüttet werden, um Süßgetränke und Einheitsbier zu verkaufen und den Status der „Besucher“ als politisch entmündigte, sozial ohnmächtige ewige Touristen im eigenen Dasein zu zementieren. Man nenne mir eine Stadt, deren Fußgängerzonenbebauung sich nicht über Nacht mit der einer anderen vertauschen ließe, ohne dass irgend jemandem etwas auffiele. Eine Stadt, deren neu gebaute Batterien von Ausbeutungs- und Unterbringungskomplexen nicht ebenso gut in einer anderen oder auf dem Mond stehen könnten. Einen „Kreativen“, dem es nicht im Grunde wurst ist, ob er in Schwabing, Kreuzberg oder Bilbao seinen Laptop aufstellt. Die „placelessness“ (Edward Relph) der Orte und der Migranten, die durch sie hindurchgeschleust werden, ist ein weltweites, allgegenwärtiges Phänomen, das alles durchdringt, aushöhlt, umformt und mit Schaumstoff füllt, und Städte sind im Zeitalter der neoliberalen Allesverwertung nur noch leere, mechanisch-digitale Urbanitätsprodukte, Apps für sicheres, risiko- und keimfreies Spektakel, „lebenswerte“ Kaugummiautomaten, die von der momentan gerade anwesenden Unterschicht gewartet und mit bunten Distinktionskugeln befüllt werden müssen, damit die „Kreativen“ ihr Zehnerl einwerfen und den Laden am Laufen halten. Tun sie das nicht mehr, programmieren wir das Ding eben um.
„Die Stadt“, schreibt Boris Groys, „wartet nicht mehr auf den Touristen. Sie beginnt selbst global zu zirkulieren, sich weltweit zu reproduzieren.“ So findet man überall die gleichen Versatzstücke von Konsum, „Kultur“ und Unterhaltung, hineinkopiert in leere Stadtlandschaften.
Das alles ist logisch und zwangsläufig. Schließlich lassen sich der „lebenswerte“ städtische Schauraum und die dort getätigten Investitionen am besten kontrollieren und verwerten, wenn keine sesshafte Bevölkerung den Interessen der Wirtschaft und der Politik mehr im Weg steht.
Es gilt also, damit die „Wahrheit“ nicht mehr aus der Mode kommt, sondern das Leben aus der Wahrheit, den überall wirksamen Fliehkräften, der Ökonomie der Mobilität, eine Praxis des Be- und Verharrens, der Aneignung, des Erschließens, Verortens, Verwachsens entgegenzusetzen. Damit ist keinesfalls ein Nationalismus oder irgendeine ähnliche Verblödung gemeint, sondern ein Recht auf einen Ort, auf Selbstbestimmung. Eine Politik, die wieder zur Politik wird und der supranationalen Politik der Konzerne, Banken und der globalen Elite entgegentritt als entschieden und ganz und gar lokale Politik. Deren Grundsatz lautet notfalls ganz einfach: Wir bleiben da. Und wenn das den „Kreativen“ zu wenig „attraktiv“ ist und sie lieber weiterziehen – ja mei, einfallen wird uns schon auch was, im Zweifelsfalle immer was Besseres.
von Michael Sailer